Montag, 29. Oktober 2007

Nachruf auf ein Stück jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts



Die Art Mensch, welche mit wenigen Gesten und Worten und einer unvergleichlichen Art in den Bann ziehen kann. Die mit dem grossen Gepäck des jüdischen 20. Jahrhunderts trotzdem als Leichtgewichte unter uns weilen. Anatoly Morkovnikov, der in der ICZ als einziger Jiddischlehrer grosse Beliebtheit bei einer kleinen aber steten Schülerschaft genoss, war zweifellos von dieser Art. Oft unbemerkt inmitten umherstürmender Religionsunterrichtsschüler betrat der jüdisch-lettische Zeitzeuge regelmässig freundlich nickend und zumeist unbemerkt montags das Gebäude der ICZ, um die jiddische Sprache und Kultur an das 21. Jahrhundert zu tradieren. Wenige Leute mögen sich an ihn erinnern. Diejenigen, welche die Gelegenheit eines Gesprächs mit ihm nutzten, werden ihn nicht vergessen. Zum Ende seiner Lehrtätigkeit in der ICZ im 2005 und nach über 20 Jahren wöchentlicher Lehrtätigkeit genoss der letzte Jiddisch-Lehrer der Schweiz noch das Ansehen von lediglich 5 Schülern.

Vor dem Krieg lebten in Riga, der Hauptstadt Lettlands, 30'000 Juden, welche unter sich hauptsächlich Jiddisch sprachen. 42 Synagogen bezeugten ein lebendiges jüdisches Bewusstsein, und deren Besucher waren ein integraler Teil der Bevölkerung. «Alle Minderheiten – Litauer, Russen, Esten, Juden, auch Deutsche – konnten gratis Schulen in ihrer Muttersprache besuchen», erinnert sich Morkovnikov. Er selbst wurde 1941 in die Sowjetische Armee geholt, wo er dank seinen Deutschkenntnissen und der daraus folgenden Mitwirkung bei Gefangenenverhören überlebte. Seine Familie überlebte, weil er sie noch vor dem Einmarsch des 3. Reichs ins tiefe Russland schicken konnte. Nach dem Krieg lebte die Familie in Riga weiter, wo er schliesslich wegen den sowjetischen Schikanen einen Ausreiseantrag stellte, der mehrfach abgewiesen wurde. Schliesslich bewilligten die Sowjets einen weiteren Antrag, weil ein hoher Funktionär an Morkovnikovs Wohnung Gefallen gefunden hatte.

Nachdem er über 80 Jahre alt war, stellte er nach etlichen Jahren als politischer Flüchtling einen Einbürgerungsantrag, der bewilligt wurde. Gemäss eigenen Aussagen betrachtete er die Schweiz als seine Heimat. «Seit die Letten auf meine jüdischen Mitmenschen geschossen haben, noch bevor die Deutschen kamen, ist dieses Land nicht mehr meine Heimat». Er habe in Riga keine Familie mehr, ausser auf dem Friedhof.

Heute Morgen ist Herr Anatoly Morkovnikov, geboren 21. August 1919 und mit ihm ein unvergessener Zeitzeuge des Zwanzigsten Jahrhunderts entschlafen.

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