Gut, über verschiedene Artikel im weiter unten erwähnten NZZ-Folio kann man sich streiten, wie man sich über Humor oder guten Wein unterhalten kann. Den meisten kann man - unter Anerkennung indessen, dass ein Thema angegangen wird, über welches in der Schweiz niemand offen und ehrlich sprechen will oder kann - , sie seien in vielerlei Hinsicht nicht sonderlich erhellend und originell. Zum einen äussern sich eine Handvoll nostalgische Angelsachsen (fanden sich denn wirklich keine Schweizer oder zumindest Zentraleuropäer zu diesem Thema?) über alte Jiddisch-Ausdrücke und niemand merkt es eher wie der Schweizer (aufgrund seiner Affinität zu Sprachen und verschiedenen Dialekt-Auswüchsen), dass die Wörter phonetisch alle auf Deutsch auch gibt. Gut, vielleicht geht ihnen der historische Ghetto-Groove (den wahren, nicht den aus der Bronx, der im Hiphop besungen wird) auf Deutsch ab, aber im Nachhinein bleibt nicht viel hängen (ausser wie immer Etgar Keret, aber der schreibt wieder einmal in einer eigenen Liga). Und die Stories dahinter sind zumeist nicht zwingend von einer Aufdringlichkeit, welche uns oder dem geneigten nicht-jüdischen Leser etwas Neues oder zumindest Erhellendes durch den Tschulent sieben.
Den grössten Schmunzler kassierte ich bei den Toilettenlisten. Dieses Problem ist mir jedenfalls in dieser Art noch nie begegnet. Man könnte meinen, "die" Juden (womit wir wieder bei einer missverständlichen Verallgemeinerung wären) hätten aufgrund wöchentlich unkontrollierbarem Hering-, Zibeles- und Tschulentkonsums in rauhen Mengen ihre Verdauung dermassen nicht mehr unter Verschluss, dass sie ständig auf der Suche nach der nächsten Toilette sind. Nie passiert (ausser vielleicht nach Purim, aber das ist ein anderes Thema... )
Lena Gorelik dann weiss uns noch ein paar antisemitische Vorurteile zu berichten, die wir noch nicht alle kannten, was aber nicht weiter störend war. Viel eher störend ist der zur Geltung kommende Drang, sich rechtfertigen zu müssen und dies erst noch - wie in casu - so behäbig und wenig überzeugend zu tun, dass man sich schon fast fragt, ob ein verkorkster humoristischer Versuch oder einfacher Argumentenmangel auf nicht überzeugtem ernsthaftem Niveau vorliegt.
Wo's schon viel kritischer wird, ist beim Interview mit dem (ein bisschen) anonymen Parade-Orthodoxen. Er ist so parade-geeignet, dass er selbst während dem Interview auch noch merkt, wie ihm der Journi aufgrund seiner Überreife auf den Schultern rumsabbert, was die Qualität der Aussagen nur noch weiter ins Arge zieht. Hier fällt ganz schlimm der Vorwurf der Verallgemeinerung und der Stellvertretung für eine ganze Gruppe von Individuen mit ihren höchst persönlichen Bräuchen und Abgrenzungen ins Gewicht. Einerseits sind die Fragen sehr einfach gestrickt und zielen oft einfach auf den 08:15-Juden, so einen Durchschnittszötteler halt... Auf der anderen Seite macht der Interviewte dann Aussagen, als sei er als Mikrofon einer Mehrheit angestellt worden, seine Aussagen stellvertretend für die gesamte Schweizer Orthodoxie (Aussagen wie "man", "wir", "die meisten" belegen dies), was dann bei einer vermutlichen Vielzahl von - natürlich auch orthodoxen und andersdenkenden, anderslebenden Orthodoxen, die sich vor den Kopf gestossen fühlen - doch zu ziemlich heftigen Reaktionen führen kann. Die mögliche implizite Ausgrenzung hat somit weniger mit "zu viel sagen" zu tun als einfach damit, dass ich selbst nicht möchte, dass mir jemand Worte in den Mund legt, zu welchen ich mehrheitlich nicht stehen kann. So ist es wohl nichts als natürlich, zu gewissen einzelnen Punkten eine Gegendarstellung anzubringen, wie sie in orthodoxen Kreisen genauso stehen könnte:
- Es ist nichts dabei, wenn man entscheidet, sich von der Aussenwelt abzuschirmen, wenn man das für sich als das richtige Rezept erachtet, um sein Überleben über Generationen zu sichern. Das Prinzip wird in der ganzen Welt angewandt, von Chinatown über Little Italy zu Mea Shearim und dem Zürcher 66er. Die Reaktion ist normal, und wem dies gefällt, der soll dies so leben. Zugehörigkeit hat sehr wohl mit Abgrenzung zu tun und ist deren negative Umschreibung. Viele Regeln im Judentum stärken die Zusammengehörigkeit eben durch eine Abgrenzung (Brot, Käse, Alkohol haben eigene Kaschrut-Parameter, welche teils nichts mit Inhaltsbestandteilen zu tun haben). Es gibt aber genauso Orthodoxe, die sich nach der Arbeit auf ein Bier mit Arbeitskollegen treffen, mit ihnen Sport treiben, gemeinsame Vereinsmitglieder sind, sich gegenseitig die Bowlingkugel polieren etc. Kurzum: Ein Zusammen- und Miteinanderleben mit Nichtjuden und vor allem aber auch mit weniger Religiösen (und dies ist eine der schlimmsten Aussagen im Interview) ist bei vielen Orthodoxen nicht automatisch ausgeschlossen, sondern gehört oft zur Realität, welcher man sich nicht verschliessen möchte.
- Familie geht nie auf den Keks? Ich weiss nicht, es gibt den berühmten Feiertagskoller, wenn am dritten Tag die Familie schon 48 Stunden aufeinander sitzt und man am Nachmittag schon nicht mehr nickern kann/will: Ob man da noch sagen kann, man gehe sich zwingend nie auf den Keks? Na ja...
- "Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass Ehen halten." Soso, das ist wohl der primäre Unterschied zwischen Orthodoxen und weniger Praktizierenden oder zwischen Juden und Nichtjuden. Scheidungen sind je länger desto eher ein Thema und so auch unter Orthodoxen, weil das Bedürfnis der Selbstverwirklichung manchmal auch vor dem Klerus nicht anhält. Die Scheidungen und Patchwork-Familien gibt es genauso bei Juden und dies in stetig steigendem Mass.
- "Wir sind so aufgewachsen, also hinterfragen wir es auch nicht." Das eben macht einen bedeutenden Unterschied zwischen verschiedenen orthodoxen Auffassungen aus. Unser "Freund" stellt sich hin und als aufgeschlossener und arbeitstätiger Bürger sagt er, man hinterfrage nicht. Niemand. Nie. Soso.
- Die Krux mit Israel: Hier fehlt es Mr. X einfach an Feingefühl, und er tritt genau dahin, wo man ihn nicht lesen will. Er antwortet zuerst, er sehe sich nicht in Israel ansässig und betrachte das Land als ein besseres Ferienland (das Frenkelsche Mallorca?), dann aber äussert er sich nicht dezidiert zu seiner Heimat, zu welchem er auch ein zweischneidiges Verhältnis hat ("nur, weil Israel nicht an der Euro 08 ist"). Eine solche Aussage ist von seltener Einfältigkeit, da der schnauztragende, morgenrot-brünstige Helvetier genau auf solche Sätze wartet, um sein zurechtgestiefeltes "Gsehsch jetzt, so dänkets" auspacken kann. Juden mögen aufgrund von Vertreibungen (ja, auch in der Schweiz im Verlauf der Geschichte mehrfach) und Wiederzulassungen ein zwiespältiges Verhältnis zum Begriff der Heimat und spezifisch auch zum damalig vollen Boot mit aufgemaltem Schweizerkreuz haben. Eine Wertschätzung liest sich jedenfalls anders, ist, wie sie dargestellt ist, sicher kein Gradmesser für eine Mehrheit und liest sich leider praktisch als Schlusssatz extrem schlecht.
Kurzum: Die Idee des Heftes ist sicher löblich, aber der Nachgeschmack ist vor allem für die jüdischen Mitleser (individuell gemeint, basierend auf persönlichen Eindrücken und Äusserungen) bitter, da man sich vorkommt, als blättere man durch einen Versandhaus-Katalog über die Juden sowie ihre Meinungen und Ansichten, aus welchem Standardantworten zu entnehmen sind. Gerade viele Interviewte aber äussern Meinungen, welche viel extremer und eigenständiger und oft schlicht und einfach Ausflüchte, als dass sie weder von der einen noch von der anderen Seite als bare Münze zu lesen sind.
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