Mittwoch, 15. September 2010

Die "reaktionären" Juden von Zürich

Mit Publikation der Schweizer Nationalfonds-Studie hat Dario Venutti im Tages-Anzeiger vom Mittwoch einen Artikel (Artikel Tagi-Online) über die Schweizer Juden platziert. In diesem weist er einerseits auf die Nationalfonds-finanzierte Studie aus Basel bezüglich der Entwicklung des Schweizerischen Judentums hin ("Schweizer Judentum im Wandel" unter Projektleitung von Dr. Daniel Gerson und den Autoren Sabina Bossert, Madeleine Dreyfus, Leonardo Leupin, Valerie Rhein und Isabel Schlerkmann), deren Schlussbericht online ist (Schlussbericht online) und in den nächsten Wochen auch bei Chassidus Chübelsack noch zu diskutieren ist. Andererseits nutzt Venutti die Gelegenheit, um einen Überblick über das Zürcherische Judentum zu vermitteln (sich u.a. auf die obgenannte Studie stützend). Dabei fällt unter anderem die Aussage, dass bis zu einem Sechstel der lokalen jüdischen Bevölkerung reaktionär sei, weil sie nicht jeden modischen Müll wie das iPhone mitmache (und ja, ich bin überzeugter iPhone-Nicht-Nutzer). Die Problematik des iPhone bezieht sich natürlich nicht darauf, ob Gott das szenig genug und reaktionär findet, sondern der Grund für die Fragwürdigkeit liegt in den Möglichkeiten und der Versuchung des Internets mit all seinen - auch - zweifelhaften Inhalten. Es ist keine Frage, dass der (hier) Schreibende die Ansicht vertritt, dass der Gebrauch des Internets nicht in absoluter Weise zu kappen ist und - insbesondere um Bildungsdefizite für Kinder und Heranwachsende im Erwerbsmarkt zu verhindern - der (wenn nötig geschützte) Internetzugang wie zu allen andern Bildungsmedien zu gewährleisten ist.
So werde von diesem Teil der ansässigen Bevölkerung die gesamte moderne Welt als bedrohlich und dekadent abgelehnt. Was natürlich Schwachsinn und falsch ist. Viele sehr orthopraxe Juden sind gelernte Informatiker, arbeiten sehr wohl mit modernen Medien und bewegen sich durch den Alltag, als sei ihnen das Bluetooth-Teil im Ohr verwachsen. Und die politische Reaktion bedeutet, dass man den Fortschritt ablehnt und sich gegen den gesellschaftlichen Fortschritt und gegen die Prinzipien der Französischen Revolution (liberté, égalité, fraternité) richtet. Dies von ultraorthodoxen Menschen zu behaupten und im selben Atemzug zu dokumentieren, dass diese sich eigentlich gar nicht für eine breite Öffnung interessieren (also nicht dagegen kämpfen, sondern es ist ihnen einfach egal, weil sie unter sich zumeist die Lösung für die allermeisten gesellschaftlichen Fragen finden), ist widersprüchlich. Man mag dieses Desinteresse kritisieren und die Existenzberechtigung einer Parallelgesellschaft in Frage stellen, aber daraus gleich eine reaktionäre Gegenbewegung zu machen, ist falsch.
Auch würde wohl eine überwiegende Mehrheit der Juden der Aussage, dass die jüdische Frau dem Mann untergeordnet ist, vehement widersprechen (siehe auch die Erklärung von Venutti, dass die jüdische Religion lediglich über die Mutter übertragen werde). In gewissen Angelegenheiten würden sich die Frauen wohl mehr Gewicht beim Ausdruck ihrer Anliegen wünschen. Dennoch finden Frauen heute auch in nicht-liberalen Gemeinden Einsitz in wichtigen Gremien und Präsidien und leisten so einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag zur Entwicklung dieser Glaubensgemeinschaften (dass dies in ultraorthodoxen Kreisen anders sein mag, ist jedoch kaum von der Hand zu weisen, aber es gibt eben nicht nur den einen Fünftel und den einen Sechstel, sondern die breite Mehrheit dazwischen ist ebenfalls zu berücksichtigen).
Dass die im 2004 kreierte Begegnungsplattform "Plattform der liberalen Juden in der Schweiz" bereits massgeblichen Anteil am Erfolg der liberalen Gemeinden trägt, kann ich nicht beurteilen, ist jedoch zumindest stark in Frage zu stellen, sofern es nicht mit Zahlen belegbar ist.
Nun, gewisse Aussagen von Venutti lassen sich hingegen kaum von der Hand zu weisen, auch wenn sie vielleicht nicht genügend präzise sind. Es finden sich im religiösen Sektor ebenfalls privatfinanzierte Schulen und es findet nicht lediglich die Vermittlung von Lehrinhalten durch Privatunterricht statt (richtig ist jedoch wohl die Aussage, dass sich mit diesen Schulabschlüssen nur erschwert ein Lebenserwerb finden lässt und somit die Gefahr der Unterstützungsbedürftigkeit durch Institutionen des Gemeinwohls besteht).
Venutti hat sich in der journalistischen Landschaft der Schweiz insbesondere dadurch einen Namen geschaffen, dass er die Organisation und Missstände in der weitgehend der Öffentlichkeit verschlossenen Hooliganszene durchleuchtet und so einer breiteren Bevölkerung zugänglich gemacht hat. An den Hohen Feiertagen begegnete ich vor der Synagoge den fragenden Blicken und Stimmen der Nachbarsbevölkerung, welche nicht verstand, weshalb an einem stinknormalen Donnerstag eine grössere Gruppe Menschen in derart festlicher Kleidung mitten im Vormittag aus einem einzelnen Lokal strömen mögen. Laubhüttenfest? Händer wieder esonen Fiirtig? Wir verstehen, dass das Unbekannte und Unverständliche zu Fragen animieren kann und diese beantwortet gehören, soweit dies auch nur möglich ist. Daraus aber gleich eine reaktionäre und rückständische Bewegung zu konzipieren, entbehrt jedoch jeglicher Grundlage und Glaubwürdigkeit.
Ein möglicherweise gesünderer Ansatz für die Koexistenz kommt von Phenomden, welcher in seiner Ode an Wiedikon zu diesem Thema lediglich die 4 Worte singt: "Villi Lüt sind jüdisch." Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Jeder zieht sein Ding durch und wo ein Austausch nicht zwingend gefragt ist, kann man ihn auch einfach sein lassen, ohne eine gesellschaftsfeindliche Tendenz daraus zu machen.

PS: Zum Bild im Artikel: Die Szene spielt offensichtlich an Purim, wie in der Legende auch dokumentiert. Vielleicht hätte man auch noch erklären können, was an Purim denn Brauch ist und dass diese Kinder verkleidet sind (unter uns gesagt ist dies aber auch nicht ganz so trivial zu erkennen, wenn die Satmarer sich als Gerer und umgekehrt verkleiden...)

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