Sonntag, 22. Juli 2012

Zur Beschneidungs-Debatte in der Schweiz

Diesen Sommer ist Europa zum Glück von Vogelgrippe, SARS und Rinderwahn verschont geblieben. Auch der zu jeder Zeit hoch gefährliche Feinstaub ist uns dieses Jahr nur beschränkt gefährlich geworden, weil der Sommer nicht stattfand und somit die Luft regelmässig von allem moralisch Verwerflichem gereinigt wurde. Also musste sich die Gesellschaft etwas Neues einfallen lassen: Ein zweitinstanzliches Gericht in Köln entscheidet, dass es das religiöse Selbstbestimmungsrecht eines Kindes derart hoch gewichtet, dass rituelle Beschneidungen durch die Eltern als illegal zu qualifizieren sind. Darob kriegen die Entscheidungsträger am Kinderspital in Zürich schweissige Hände und führen ab sofort und bis zum Erlass einer definitiven Direktive keine Beschneidungen mehr durch. Und selbiges zieht nun offenbar auch das Kinderspital in St. Gallen in Erwägung. Bisher konnte insbesondere bei Diskussionen, welche Israel betrafen, mit Verwunderung festgestellt werden, auf welch überbordendes Interesse der Nahostkonflikt hierzulande trifft und in wievielen Kommentaren sich die Meinung Helvetiens mannigfaltige Do it yourself-Politologen niederschlägt (u.a. in sehr qualifizierten Vergleichen und stammtisch-würdigen Aussagen). So mag es doch erstaunen, dass auch die Beschneidung von jüdischen und muslimischen Kindern, also eine Thematik, welche sich nicht alleine auf den Nahostkonflikt beschränkt, die schweizerische Bevölkerung derart bewegt, sich zu dezidiert-primitiven Aussagen hinreissen zu lassen wie "In Israel lassen sie ja beschneiden. Dann sollen die Juden doch dahin." Die Diskussion im Nachgang an die Publikation des Artikels auf der Online-Ausgabe mit zeitweise über 400 Kommentaren derart ausgeartet ist, dass mittlerweile die Kommentierfunktion ausgeschaltet werden musste und die Kommentare nicht mehr einsehbar sind (einsehbar und sinngemäss auf der Webseite von www.welt.de, http://www.welt.de/politik/deutschland/article107282733/Dieses-Urteil-wirkt-wie-eine-Diskriminierung.html). Erstaunlich ist insbesondere, wie sich heute jedermann zu einem Grundrechtsexperte und Fachkraft zur Beurteilung fremder religiöser Bräuche erküren kann und den Anspruch auf sich nimmt, sich qualifiziert zu Thematiken zu äussern, von welchen er nur mal im Internet mal den Brockhausartikel oder das Wiki quergelesen hat (beispielhafter O-Ton: "Wenn Gott das wirklich gewollt hätte, dann hätte er den Menschen schon so zur Welt gebracht"). Interessant auch, dass der Tages-Anzeiger die Diskussion inzwischen auf den Umstand lenkt, ob ein solcher Eingriff von der Krankenkasse bezahlt werde... wayne?
Die Intensität der Kommentierung dieser Angelegenheit gibt zu denken, handelt es sich unbestritten um einen Sachverhalt, welcher einen marginalen Teil der Bevölkerung betrifft. Natürlich greift die Entscheidung des Kinderspital Zürichs viel zu kurz, weil es erstens ausgefällt wird, bevor das entsprechende Urteil rechtskräftig geworden ist und zweitens eine Prozedur nicht mehr zulässt, welche nun möglicherweise nicht fachgerecht und ausserhalb von Spitälern durchgeführt wird. Zudem wird der Ausdruck der "rituellen Beschneidung" kreiert, welcher auch die Beschneidung von Frauen einschliesst, also ein eindeutig nicht identitätsstiftender, barbarischer Vorgang, welcher primär darauf abzielt, das sexuelle Selbstbestimmungsrecht zu unterminieren. Sodann greift auch der Entscheid des Landgerichts Köln viel zu kurz. Einerseits wird eine seit Jahrtausenden praktizierte Prozedur und feste religiöse Tradition unvermittelt als Körperverletzung qualifiziert und als nicht erlaubter Eingriff in die physische Integrität. Dass ein vegetarisches Erziehen, das Anbringen von Ohrlöchern  sowie andere Eingriffe im mutmasslichen Interesse des Kindes ebenso die physische Integrität betreffen und nicht vom Kind selbst getroffen werden, wird beiseite gelassen. Gemäss geltendem schweizer Zivilrecht entscheiden die Eltern für ein Kind bis zu seinem 14. Lebensjahr über seine religiöse Erziehung. Bei der Beschneidung handelt es sich sodann um einen Vorgang, wie er in breiten Teilen der Welt praktiziert wird (wohlbemerkt ist in den Vereinigten Staaten ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung aus medizinischer Auffassung beschnitten), in den seltensten Fällen zu Problemen führt und insbesondere jemand bitte ein Beschneidungsopfer präsentieren soll, der sich wünscht, er sei nie beschnitten worden. Auch das Argument, dass eine Beschneidung erst durchgeführt werden solle, wenn das Kind dies selbst entscheiden könne, greift viel zu kurz: An einem der schmerzhaftesten Punkte des männlichen Körpers soll mit einer Prozedur zugewartet werden, welche im fortgeschrittenen Alter viel traumatischere Spuren hinterlassen mag, als wenn sie im Alter von 8 Tagen vorgenommen wird und sich kein Kind daran erinnern wird.
So ist auch nicht nachzuvollziehen, weshalb jeder Sachverhalt der Aktualität Anlass zu einer öffentlichen Umfrage geben muss, wo sich nahezu 80% der Bevölkerung gegen die Beschneidung aussprechen (bzw. in Deutschland 45%). Was kümmert es denn Herr Kunz, ob mein Sohn beschnitten wird (bzw. um den besten Tages-Anzeiger-Kommentator zu zitieren: Was kümmert Euch mein Penis)? Auch kaum zu erklären ist, wann zum letzten Mal ein deutsches Gerichtsurteil derart umgehend Rechtswirkung in der Schweiz entfalten konnte.
So unverständlich es gelegentlich tönen mag, dass in Debatten um die Nahostpolitik der Holocaust als grösste Katastrophe in der jüdischen Geschichte als Argument Einzug findet: In der Beschneidungsdebatte geht es viel mehr als um einen Brauch. Es geht um einen identitätsstiftenden Vorgang, welcher einem männlichen Kind erst die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk verleiht. Ein Vorgang, so alt wie das Judentum selbst. Dass der (nochmals: nicht rechtskräftige) Entscheid eines Gerichts in Deutschland viele Juden beängstigt und Existenzängste schürt, ist verständlich und ernst zu nehmen.

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